Auf der ALM 2022 stellte ich in meiner Session die Frage: Projektierst Du noch oder entwickelst Du schon Produkte? Dieser Artikel ist der Versuch einer Transkription plus eine leichte Anpassung der ursprünglichen Version.
Hintergrund der Eingangsfrage sind zum einen meine Beobachtungen aus mehr als 15 Jahren im Projektgeschäft mit Softwareentwicklungsdienstleistungen. Zum anderen Aussagen aus verschiedenen Meetups, Barcamps und Open Spaces. Obendrauf kommen noch Erfahrungen aus Projektanfragen im Rahmen meiner Selbstständigkeit.
Mein Ziel ist ein Aufrütteln und Hinterfragen des Staus Quo. Denn überall nehme ich eine noch immer stark von Projektdenken geprägte Sprache wahr. Und das bringt mich zu der Aussage, dass Unternehmen dadurch hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben, noch besser zu werden.
Lasst uns zunächst sehen, wo wir stehen.
Denkt als ersten Schritt über folgende Frage nach: Was verspricht sich euer Unternehmen von "Agilität"?
Stellt diese Frage auch gerne in einem passenden, größeren Rahmen. Zugegeben, das mag wie eine lästige Frage klingen und die Behandlung dieses Themas ist ein Artikel für sich. Doch hört euch die Antworten genau an und hinterfragt diese: "Wir müssen schneller werden". Wozu? "Wir müssen anpassungsfähiger werden". Wozu? "Unsere Softwareteams müssen mehr liefern". Wozu?
Diese Übung hat ein einfaches Ziel: Ist das Thema "Agilität" Mittel zum Zweck oder nur ein Selbstzweck?
Überlegt im zweiten Schritt, ob ihr die folgenden beispielhaften Aussagen kennt:
Das sind alles mögliche Zeichen für eine "Projekt-Kultur". Von einem agilen Blickwinkel aus betrachtet, geben diese Aussagen potenzielle Warnhinweise:
Im dritten und letzten Schritt bietet sich noch an, einen Blick auf interne wie externe Stellenausschreibungen oder Anfragen zu werfen. Im Umfeld von Scrum bzw. konkreter eines Scrum Master können solche Beispiele auftauchen:
Diese Formulierungen deuten darauf hin, dass kein Scrum Master gesucht wird, sondern ein Projektleiter. Wahrscheinlich ist der Weg zur Agilität auch noch ein weiter.
Und ich gebe "dem Projekt" eine Mitschuld daran.
Bevor wir zu meiner eigentlichen Behauptung kommen, sind noch zwei wichtige Hinweise nötig.
Disclaimer 1: Es kommt immer darauf an.
In der Produktentwicklung bewegen wir uns in den meisten Fällen in einem komplexen Umfeld. Für die Lösungsfindung in einem solchen Gebiet gibt es keine Best Practices oder magischen Silberkugeln. Jedes Unternehmen ist anders und somit ist jede Lösung anders. Und genauso können Projekte und Produkte in einem Unternehmen wunderbar koexistieren, während es in einem anderen zu Reibungen führt.
Disclaimer 2: Unternehmen bestehen am Markt auch ohne explizite "Agilität".
Hier dürfen wir uns keine Illusionen machen. Wirtschaftlicher Erfolg geht auch ohne Scrum und Co. Sehr viele Unternehmen sind mit klassischen Organisationsformen und Vorgehensweisen an die Position gelangt, an der sie heute sind und verdienen schlussendlich Geld.
Die Frage ist nur, wie weit sie damit noch kommen bzw. wie lange sie so noch am Markt bestehen können. In meinen Augen wird durch das Festhalten an alter Management- und Projektdenke Potenzial verschenkt.
Hypothese: Denken in "Projektsprech" fördert agil tun statt agil sein und behindert einen nachhaltigen Markterfolg.
Oder kurz: Ihr lasst Geld auf der Straße liegen.
Wichtig dabei ist zudem, dass sich "Markt" nicht nur auf ein Produkt und dessen Absatzmarkt bezieht. Genauso ist damit auch der Arbeitsmarkt gemeint und somit die Arbeitgeberattraktivität. Jedes Unternehmen kann selbst bestimmen, welche Mitarbeitenden es attrahieren möchte und halten kann.
Blicken wir auf die Unterschiede und Zusammenhänge zwischen Projekten und Produkten.
Als Einstieg lohnt sich festzuhalten, was ein Projekt eigentlich ausmacht. Gemäß IPMA ist die Definition wie folgt:
Ein Projekt ist ein einmaliges, zeitlich befristetes, interdisziplinäres, organisiertes Vorhaben, um festgelegte Arbeitsergebnisse im Rahmen vorab definierter Anforderungen und Rahmenbedingungen zu erzielen.
Aus Sicht einer Agilistin ist da viel Gutes dabei. Mit der Einmaligkeit und einer zeitlichen Befristung kommen wir zurecht. Interdisziplinarität finden wir großartig. Organisiert gehen wir vor, auch wenn das nach außen nicht immer so aussieht. Und passende Rahmenbedingungen halten wir für immens wichtig. Abhängig vom betrachteten Zeitraum haben wir ein Problem mit festgelegten Arbeitsergebnissen und Anforderungen. Denn wir wissen, dass in komplexen Umfeldern gute Lösungen emergent und nicht prädiktiv gefunden werden.
Was dieser Definition von Projekt vollkommen fehlt, ist der Hinweis auf einen zu schaffenden Wert. Genau das ist der Zweck eines Produkts, wie in dieser Definition zu sehen:
A product is a vehicle to deliver value. It has a clear boundary, known stakeholders, well-defined users or customers. A product could be a service, a physical product, or something more abstract.
Diese Nichtübereinstimmung zwischen Projekt und Produkt kann entsprechend zu einem Zielkonflikt führen.
Welches Ziel hat eine Projektmanagerin? Gemessen am Projektdreieck achtet sie auf Zeit, Kosten sowie Inhalt bzw. Umfang. Tendenziell liegt der Fokus somit auf Output - also das "wie" oder "wie viel".
Welches Ziel hat eine Produktmanagerin? Sie hat den Kundennutzen bzw. einen für die Kundin zu schaffenden Wert im Blick. Tendenziell liegt ihr Augenmerk somit auf Outcome - also eine Ergebnisorientierung oder das "was".
Zur Auffrischung, wieso eine Produktorientierung wichtiger ist und wozu Unternehmen eigentlich existieren:
Our highest priority is to satisfy the customer through early and continuous delivery of [value].
Und genau hier ist der Knackpunkt. Mit einer Fokussierung auf Projekte dreht sich ein Unternehmen oft nur um sich selbst und beschäftigt sich mit sich selbst. Eine (Rück-)Besinnung auf den Kundennutzen und damit eine Betrachtung des gesamten Wertstroms findet dabei nur noch am Rande statt?
Die Gefahren und Stolpersteine der oben beschriebenen Widersprüche setzen sich in Praktiken fort, wie sie vielleicht auch (noch) in Deinem Unternehmen zu beobachten sind:
Und wenn sich das Denken an diesen beispielhaften Punkten nicht in den richtigen Köpfen ändert, ist das neueste "agile Wundermittel" auch egal.
Was ich damit sagen will:
All dies führt zu der Erkenntnis, dass nachhaltiger Markterfolg nur durch volle Business-Agilität entsteht.
Und Werte wie Commitment, Fokus, Offenheit, Respekt und Mut passen immer. Egal ob im Projekt oder bei der Produktentwicklung ist der schätzende Umgang mit Menschen stets wertvoll.
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